„also früher war ja mehr lametta. alles war besser – auch die gesundheit und so. ich mein, was die kinder heute nicht alles haben. so psychisch und so. ich mein, adh-dingsbums. das hieß früher nur temperamentvoll, nich?“
schon mal gehört? und genickt? dann aufgemerkt, denn natürlich ist es bei weitem nicht so einfach. psychische erkrankungen bei kindern haben zwar zugenommen, aber nicht in dem maße, wie es medial suggeriert wird. vielmehr gehen besorgte eltern viel eher zum arzt, um „störungen“ abklären zu lassen. sich helfen zu lassen. aufmerksamer sein heißt aber – mehr diagnosen. und in der folge werden vielleicht erkrankungen erkannt und behandelt, die vor 20 jahren durchs raster gerutscht wären. diskussionswürdig ist, ob man bei jedem kleinen anders-sein zum psycho-doc rennen muss. aber das ist eine andere baustelle. fakt ist: es wird besser diagnostiziert und behandelt. zumindest in den ballungsräumen. indes, ist die akzeptanz des „anders-seins“ in der gesellschaft gestiegen? besonders oder gerade bei kindern? das lässt sich objektiv nicht beurteilen, aber ein erster schritt zur entstigmatisierung ist, sich damit zu beschäftigen. was heißt eigenlich psychisch krank? oder störung? wie sieht das bei kindern aus? sind die etwa verrückt?! (okay, das war jetzt arg polemisch ;-))
(wer’s wissenschaftlich mag, dem empfehle das hier 2014 – Psychische Auffälligkeiten und psychosoziale Beeinträchtigungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren in Deutschland – Prävalenz und zeitliche Trends zu 2 Erhebungszeitpunkten (2003–2006 und 2009–2012) Ergebnisse der KiGGS-Studie – Erste Folgebefragung (KiGGS Welle 1)
job-technisch ist mir zu diesem thema eine neuerscheinung in die hände gefallen, die ich wärmstens weiterempfehlen MUSS: „Anders als die Anderen. Was die Seele unserer Kinder krank macht“ von Franz Joseph Freisleder. der gute mann ist psychiater und ärztlicher leiter am kbo-Heckscher-klinikum für kinder- und jugendpsychiatrie in münchen. keine angst, jetzt folgt nicht die vorstellung eines hochelaborierten wissenschaftlich wertvollen werks.
„Anders als die Anderen“ ist ein buch für interessierte laien. es dreht sich mitnichten um wissenschaftlich-abstrakte diagnosen und therapien, sondern um ganz konkrete fallgeschichten (natürlich fiktiv, stichwort „patientenschutz“). diese „portraits“ zeigen, wie psychische erkrankungen im kindes- und jugendalter aussehen können. wie familie und umfeld eingebunden und welche rolle sie nicht nur in der entstehung von krankheiten, sondern auch in der therapie spielen. nie geht es dabei um die große schuldfrage, denn die prämisse ist von anfang an klar: psychische erkrankungen treffen kinder jeder sozialen schicht und sind keine folge eines einzelnen auslösers oder gar ergebnis eines erziehungsfehlers. sehr einfühlsame und bildliche mosaike einzelner patientengeschichten entstehen, in denen das verstehen und begreifen im zentrum steht, gefolgt von dem weiteren behandlungsverlauf und einem ausblick. bunt durch den psychiatrischen gemüsegarten geht es von zwangsstörungen, depression, adhs und co, am ende jeder „geschichte“ sind die puren fakten der jeweiligen diagnose kurz zusammengefasst.
Fazit: „Anders als die Anderen“ ist unglaublich interessant geschrieben und damit auch für menschen gut lesbar, die mit psychiatrie sonst nichts am hut haben. der mensch – in dem fall das kind/der jugendliche – steht immer im vordergrund – und zwar in der gesamtheit seines verhaltens, seiner probleme und letztendlich auch seiner genesung oder therapie. ein buch für mehr verständnis, für verstehen als prozess – gerade in unserer heutigen gesellschaft.
noch etwas persönliches zum schluss: gerade ich als psycho-patient finde sollte es mehr solche bücher geben und vor allem mehr menschen, die sie lesen. ich durfte im übrigen den autor auch persönlich treffen und muss sagen: kaum ein arzt hat mich menschlich und fachlich so beeindruckt in letzter zeit.