diesmal geht mein wunsch nicht in erfüllung. ich liege nicht allein im zimmer, ich habe gesellschaft. eine frau mitte 40, nennen wir sie mal frau baum. sie ist das erste mal auf der station. seit einem halben jahr geht es ihr schlecht, seit sie beim langlaufen auf den hintern geknallt ist. mittlerweile geht es ohne rollator nicht mehr, rasant nimmt die körperliche kraft ab. frau baum redet wie ein wasserfall. voller angst, nicht nur um sich selbst, sondern auch um ihre familie. um ihr leben, wie sie es bis jetzt kennt. keinen klaren gedanken kann sie fassen, die fragen türmen sich haushoch. ihre schwester hat den termin für sie angeleiert – nachdem sie symptome gegooglet hat. „wann werden die ärzte hier eine diagnose haben?“, fragt mich frau baum. „bin ich denn nächste woche schon wieder zu hause?“. ich bleibe mit meiner antwort vage. denn selbst eine sichere diagnose heißt noch keine behandlung. schon gar nicht eine heilung. und schnell wird es auch nicht gehen.
frau baum bombardiert mich mit details aus ihrem leben. wie es war, in der schwangerschaft drei monate lang zu liegen und warum ihre kinder nicht mit dem fahrrad zur schule fahren können. sie redet, als ob sie versucht, sich selbst zu betäuben. ihre ahnung, ihre panik. in der schwebe, ob die unsicherheit, das nicht-wissen einen letzten hoffnungschimmer bedeutet oder gewissheit nicht doch eine erleichterung ist. ich höre ihr zu und kann mich nicht entscheiden, ob ich genervt sein soll oder mitleidig. mitleid ist scheiße. frau baum ist einfach gestrickt. ein segen, da sonst die diffuse angst einer ausgewachsenen panik weichen würde?
die ärzte erklären ihr den ablauf der untersuchungen, reden lange mit ihr. schwammig, den echten verdacht spricht niemand aus. schließlich gibt es noch keine fakten, keine beweise. frau baum weint mittlerweile. ihr mann ist rational schon einen schritt weiter. ich treffe ihn beim rauchen, er überblickt die konsequenzen, die auf seine familie zurollen. auch wenn es noch nicht 100% sicher ist.
am nächsten tag wird frau baum in ein einzelzimmer verlegt, damit ihr mann bei ihr bleiben kann über nacht. ihre traurigkeit, die sie selbst noch nicht realisiert hat, auffangen kann. mir ist es fast klar, wie die diganose heißen wird, ich habe es schon oft genug gesehen. was wird aus ihr werden, wenn der verdacht bestätigt ist? oder gibt wirklich noch hoffnung auf eine andere diagnose? ich weiß es nicht, denn jetzt liege ich allein im zimmer. ohne mit-patientin.
Sehr schwierig, wenn es eine Diagnose betrifft, die sehr plötzlich und sehr schwer über einen kommt, weil die allerwenigsten Menschen sich darüber Gedanken gemacht haben, wie sie es gern handhaben würden, und noch weniger haben darüber mit Angehörigen oder Freunden gesprochen oder gar irgendwo festgehalten wie das sein soll.
Wenn man im Prinzip bereits weiß, was kommen _könnte_ und Zeit hatte, sich darauf vorzubereiten, ist es einfacher. Für mich ist klar, dass ich wissen möchte, wie es steht, auch bei schlechtester oder infauster Prognose, aber mir ist ebenso klar, dass es nie eine absolut zuverlässige Prognose geben wird. Das ist aber erst so seit ich mich mit meiner jetzigen Diagnose auseinandersetze. Bei anderen erlebe ich in meinem Umkreis eigentlich ständig, dass solche Themen und Gedanken lieber verdrängt werden und das Nicht-Wissen-Wollen eher die Regel ist.
Der Hinweis „Frau Baum ist einfach gestrickt“ ist eigentlich der Knackpunkt. Denn das heißt, dass du als Arzt, wenn du deinen Job ernst nimmst, sie da abholen musst, wo sie steht.
„Sie haben ALS“ wäre dann absolut der falsche Weg. Und ich traue auch nur sehr wenigen Ärzten das notwendige Fingerspitzengefühl zu.
Je nachdem, wie die Diagnose überbracht wird, entscheidet man da schon mal über Schicksale. Macht mans *sehr* falsch, zerstört man den Lebenswillen und das möglicherweise unwiderruflich. 🙁
Aber was das „wissen wollen“ angeht – da hast du recht. Das will ich auch wissen. Ich will wissen, wo ich stehe und wie die Prognose ist.
Aber ich glaub, auf den Standpunkt kannst du dich erst stellen, wenn du mal vor der Situation gestanden hast.
was die ärzte dort betrifft, die haben das nötige fingerspitzengefühl. aber du hast recht, nicht viele holen den patienten da ab, wo er steht.
wahrscheinlich kann man sich auch wirklich erst damit beschäftigen, wenn eine solche situation eingetreten ist? obwohl – vielleicht ist es sinnvoller, wie karl meint, dass diese themen nicht totgeschwiegen und verdrängt werden….
Es ist bitter, daran erinnert zu werden, dass wir eigentlich keine Kontrolle darüber haben, wie unser Leben weiter verlaufen wird. Egal, wie viel wir planen, wie viel Vorsorge wir treffen – ein kaputtes Gen, ein unaufmerksamer Autofahrer… Es ist sicherlich ein Segen, dass wir eben nicht wissen können, wann uns die entscheidende Wendung ereilen wird, aber auch ein Fluch. Einerseits – andererseits… ich persönlich bin froh darüber, nicht zu wissen, was meine Zukunft bereit hält. Mich würde es mehr belasten als das ich die Zeit sinnvoller nutzen könnte. Aber eine solche Erinnerung an diese elementare Tatsache der Existenz macht schon nachdenklich.
das trifft es ganz gut. eben dieser zwiespalt, was verkraftet man an wissen und was nicht. und was kommt nach diesem wissen, wenn man weiß, was passieren wird. so schwierig, und auch schwierig in worte zu fassen…
Wenn eine derartige Situation eingetreten ist oder sich ankündigt, denke ich aber auch, dass Wissen eben viel Wert sein kann… Unsicherheit über die eigene angeschlagene Gesundheit belastet, sobald die Probleme da sind, ja ebenfalls – so oder so, es ist unglaublich schlimm, wenn eine solche Erkrankung ein Leben zerstört. Für mich ist es unvorstellbar, wie es sein muss, mit einer solchen Diagnose konfrontiert zu werden, ich kann nicht mal sagen, ob es mir in dem Fall lieber wäre, möglichst lange noch Hoffnung zu haben oder möglichst schnell die Ungewissheit zu verlieren.
Ich kann nur von mir ausgehen und sagen, dass ich vor einigen Jahren entschieden habe, keinen Gentest auf eine testbare, in meiner Familie gehäuft vorkommende Krebsart durchführen zu lassen. Ich will mein Risiko nicht kennen, bevorzuge in diesem Fall die Unwissenheit gegenüber dem Wissen, das mich belasten würde…
Nachdenkliches ist genau der richtige Tag für so eine Geschichte. Dieser Moment, wenn so eine Diagnose in eine Familie oder einen Menschen einbricht, ist einfach immer schrecklich….
ja diese momente sind schrecklich. und das ist eigentlich eine momentaufnahme, bevor das schreckliche wirklich passiert. es liegt in der luft, aber ist noch nicht sicher…
Kann man da wirklich „gefällt mir“ anklicken?
Hmm, guter Bericht in jedem Fall. Das ist (auch) Medizin.
ja, der elende „gefällt mir“ button. danke, irgendwie musste ich das rausbloggen, weil es mir nicht so richtig aus dem hirn gehen will. wie gehen wir mit unsicherheit um? wie gehen wir mit ängsten um? irgendwie bedrückend das alles…
Den Ängsten nachgeben. Ignorieren, unterdrücken, das alles heißt nur: Dem Tsunami genug Kraft geben, damit er einen verschlingen kann.
Für eine Weile trauern, Angst haben. Aber dann:
Es ist wie es ist.
Wenn man DA ist, dann hat man jede Kraft, die man braucht, um zu kämpfen. Auch notfalls den letzten Kampf.
Aber getrauert werden muss. Auch um das eigene Leben. Denn erst nach der Trauer kann (wenn vielleicht auch nur kurz) das Leben zurückkehren. Und ja, auch todgeweihte haben ein Leben.
das kann ich genau so unterschreiben. auch wenn es sich natürlich einfacher liest, als es ist…
weißt du, was aus Frau Baum wurde?
nein ich weiß es nicht. ich habe eine vermutung, was ihre diagnose betrifft, aber mehr nicht…
und wie lautet deine Vermutung? Polymyositis?
viel schlimmer. ALS 🙁